Montag, 26. Dezember 2005

Spannend, berührend: Wilma aus Senigallia im Textatelier

Auch mich hat Wilma angesprochen. Ihre Lebensgeschichte, die seit kurzem in der Rubrik Literatur im Textatelier.com abrufbar ist, ist spannend und berührend. Schon die Einführung von Thomas Jancke, der ihre Aufzeichnungen vom Italienischen ins Deutsche übersetzte, führte mich sofort auf lichte Wellen.

Wilma muss eine hochsensible, feinfühlige Frau sein. Als 2-Jährige fühlte sie ein Erdbeben voraus, das eine halbe Stunde später eintraf. Sie sei scheinbar grundlos um und unter dem Küchentisch hindurch gelaufen und habe mit durchdringenden Uh-Uh-Uh-Rufen auf etwas aufmerksam gemacht, das die Erwachsenen vorerst nicht deuten konnten.

Gerade weil diese Aufzeichnungen (laut Vorwort) von einer Fachperson als „belanglos“ abgetan wurden – es sei keine Literatur –, las ich sie besonders aufmerksam. Ich wollte dieser Abqualifizierung auf den Grund kommen. Ich erkläre mir das Urteil so, dass diese Lebensbeschreibung ohne künstliche oder künstlerische Ausformung auskommt. Es ist so ehrlich geschrieben, dass es auf diese verzichten und einem gerade deshalb packen kann. Hier spricht das Leben, das in keine Schule passt. Und das ist spannend. Wir fühlen das Echte. Es ist die Lebensquelle, die von Wilma nachgezeichnet wird. Und es berichtet von einem Leben, das es heute nicht mehr gibt.

Die Stadt Senigallia möchte ich jetzt gerne einmal besuchen, die Meerluft von dort atmen, die Wege gehen, die Wilma vertraut sind. Die Menschen, die hier ansässig sind, reden hören und ihr Temperament fühlen.

„Die Männer unseres Hafenbezirks, besonders die Alten, waren zumeist Anarchisten, die Frauen dagegen folgsame Katholiken, und wir Kinder wuchsen auf in einer Mischung aus Religion und Aberglaube.“ So stellt sie in ihrem Buch die grundlegenden Einflüsse aus der Kindheit vor.

Die Weihnachtszeit klingt mit dem Dreikönigsfest auch in unserer Zeit am 6. Januar aus. In Senigallia war das der Tag, an dem man die Hexe Befana erwartete. Die Worte Epifania und Befana scheinen eng verwandt zu sein. Dieses Fest schliesst die so genannten Rauhnächte ab. „Diese Periode zwischen den Jahren galt in ganz Europa bis in unsere Tage als Spukzeit, in der die Wilde Jagd umgeht, die alten Winterdämoninnen nochmals kräftig rütteln und schütteln, die Luft reinfegen für das Neue“, schreibt Ursula Walser-Biffiger in ihrem Buch „Wild und weise“ – Weibsbilder aus dem Land der Berge. Auch in ihren Forschungen kommt die Hexe Befana vor, die im Tessin und in Italien die Kinder an diesem Epifania-Fest durch den Kamin beschenkte. Nach der Legende dieser gutmütigen Hexe, lese ich in einem Internet-Beitrag, habe sie wie die Hirten die Botschaft von der Geburt Christi gehört, sei aber zu spät nach Bethlehem aufgebrochen, habe den Weg verfehlt und sei deshalb immer noch auf der Suche nach dem Jesuskind. Deshalb bringe sie heute noch allen Kindern Geschenke, weil sie hoffe, es irgendwann und irgendwo doch noch zu treffen.

Braven Kindern bringt Befana Geschenke, böse Kinder werden mit Asche und Kohle bedacht. Wilma erzählt, dass sie und die Geschwister Geschenke und „das unvermeidliche Stückchen“ Kohle bekommen hätten.

Wir hören: Die Hexe auf dem Dach sei vom verkleideten Onkel, der mit einer Kartonröhre als Megaphon durch den Kamin redete, verkörpert worden. Seine Stimme habe die Kinder glauben lassen, Befana befinde sich auf dem Dach. „Seid ihr auch brav gewesen?“ „Jaa!!“ „In der Schule und im Kindergarten?“ „Jaa!!“ Nach einem auferlegten, gesprochenen Gebet schwebten dann die Gaben durch den Kamin hinab.

Geheimnisvolle Zeit mit Bräuchen, die dem modernen und nüchternen Denken fern sind. Für die Kinder aber sind solche von unverzichtbarem Wert für ihr Gemüt und für die Erwachsenen eine Art Reichtum, der sie an ihre Ursprungsorte anbindet. Befana, Sankt Nikolaus und wie ich jetzt aus Paris höre auch Père Noël sind offensichtlich auch heute noch wichtige Figuren, die mithelfen, dass sich in den Kindern ein feinmaschiges Gewissen entwickeln kann.

Mich, die ich Befana bisher nicht kannte, hat sie vielleicht dieser Tage auch besucht. Wollte sie mir beweisen, dass es sie noch gibt und hat sie mir darum einen gnadenlosen Hexenschuss verpasst?

Der Link zum Buch „Wilma, das Hafenkind aus Senigallia“

Donnerstag, 15. Dezember 2005

Der Zürcher Hauptbahnhof – pulsierender Ort für Emotionen

Meine Wege führen oft durch unseren Hauptbahnhof Zürich. Am liebsten durchschreite ich die Halle, wenn sie leer ist. Der Raum ist wunderschön und schenkt einem ein gewisses Freiheitsgefühl.

Jetzt, zur Vorweihnachtszeit, aber ist er prall gefüllt und wieder Magnet für alle, die den Zauber der Weihnachtszeit auskosten wollen. Der Christkindlimarkt entwickelt sich auch hier mehr und mehr zur unverzichtbaren Tradition. Da sind ein Gedränge und ein Stimmengewirr. Die Angebote vielfältig. Jedes Häuschen mit eigenem Angebot, eine Welt für sich. Düfte regen die Sinne an. Gold und Silber glitzern. Käsespezialitäten und Fleischwaren lassen die Säfte im Mund zusammenfliessen. Und die Swarowski-Kristalle geben der grossen Tanne auch heuer wieder die vornehme Ausstrahlung. Wichtig sind auch der Auftritt von Helvetas, der Organisation für internationale Zusammenarbeit, und die Angebote aus therapeutischen Arbeitszentren. Im Magazin, das zu diesem Markt gehört, erzählen die Stadtpräsidenten von Luzern und Zürich, was ihnen Weihnachten bedeutet. Es sind die liebevoll gehüteten Erfahrungen aus der Kindheit, die auch für sie mit dem Geheimnis dieses Festes verbunden sind. Für mich sind gefühlsmässigen Erfahrungen wichtig, und wenn ich höre, dass Mitmenschen ähnliche ebenfalls als Schätze hüten, fühle ich mich ihnen verbunden.

Hier im Bahnhof, wo die Menschenströme zusammenkommen, frage ich mich manchmal: Woher kommt ihr, wohin geht ihr? Oder wenn ich Menschen aus fernen Kontinenten sehe: Wo hast du laufen gelernt? Und: Was sind die Motive, dass du hier durchkommst? Was oder wen suchst du hier? Was ist denn bei uns besonders interessant?

Und ich verstehe plötzlich, was Mütter früher meinten, wenn sie auf die quengelnden Forderungen ihrer Kinder nicht eingehen wollten und dann sagten: „Ich höre nur Bahnhof.“ Dies ist wirklich ein pulsierender Ort mit dauernd wechselnden Bildern, Informationen und verführender Reklame. Niemand kann auf alle im Detail eingehen, wie Eltern auch nicht auf alle Wünsche der Kinder.

Am letzten Freitag ging ich, von der Bahnhofstrasse herkommend, auf den Bahnhof zu und bemerkte 3 Personen, die eben angekommen sein mussten. 2 Frauen gesetzten Alters und ein Mann an ihrer Seite. Dieser ist mir besonders aufgefallen. Er stand da, staunte über die Menschen, wie sie in Strömen daherkamen, über die vielen Lichter, die Hektik. Offensichtlich unvertraut mit dem Stadtleben, stand er nur da und muss sich gefragt haben: Wo bin ich? Was geht hier vor? Eine Scheu und eine Art Verlorenheit in seinem Blick berührten mich. Und ich dachte dabei: So habe ich auch schon dagestanden. An einem anderen Ort, aber ebenfalls aus meiner gewohnten Alltagswelt herausgetreten ins Unbekannte und Unfassbare. Noch kenne ich diese schüchternen Gefühle und gleichzeitig die Faszination, die selbstvergessen machen. Es sind unvergessliche Momente, die einem in eine andere Ebene katapultieren.

Dienstag, 6. Dezember 2005

Der unbekannte Samichlaus an der M-Kasse im Kreis 5

Letztes Jahr, am 6. Dezember 2004, traf ich vor der Migros-Kasse mit einer mir nicht bekannten Frau zusammen, die sich nach unserem „Samichlaus“ (Sankt Nikolaus) erkundigte. Sie sehe hier viele Zeichen von ihm und interessiere sich für die dahinter liegende Geschichte. Sie komme aus Berlin, kenne eigentlich nur die Figur des Knechts Rupprecht. Weiter erzählte sie, dass sie heute Geburtstag feiere. Sie heisse Nicole. Das ist die französische und weibliche Form von Nikolaus. Als ich daraufhin wies, staunte sie. Sie kannte diese Zusammenhänge noch nicht.

Ich konnte ihr dann in groben Zügen erzählen, dass unserem Samichlaus die Figur des Heiligen Nikolaus von Myra zugrunde liege und dass diese die Mildtätigkeit verkörpere. Der Samichlaus, wie wir ihn heute feiern, komme aus dem tiefen Wald, vor allem zu den Kindern und prüfe, ob sie artig seien. Er beschenke sie mit Nüssen, Äpfeln, Mandarinen, Lebkuchen und „Gritibänzen“ (aus Hefeteig gebackene Mannli) und anderen Leckereien. Die Kinder würden für ihn Verse aufsagen und Lieder singen.

Wenn ich die Berlinerin heute wieder träfe, würde ich noch auf die diesjährigen Sonder-Briefmarken aus der Schweiz hinweisen und ihr jene zu 85 Rappen zeigen, auf der die Insignien des christlichen Ur-Nikolaus zu sehen sind. Die Mitra (Bischofshut) und der Bischofsstab. Die zur gleichen Serie gehörende Briefmarke zu 100 Rappen stellt übrigens einen Gritibänz dar. Die grafische Darstellung dieser beiden Werte fängt den Zauber ein, den ich als Kind in mich aufgenommen habe und der mir immer noch Massstab ist. Sankt Nikolaus ist für mich eine Figur aus der Anderswelt. Eine mythische Figur, die sich der jeweiligen Gegenwart und der Wellenlänge der einzelnen Menschen und Familien anpasst, und doch unverkennbar sich selbst bleibt.

Aus einem Internetbeitrag des Historikers Martin Leuenberger erfahre ich jetzt, dass auch die Indianer aus dem Südwesten Amerikas eine solche Figur gekannt haben. Eine maskierte und kostümierte Person, die jährlich wiederkehrte, die Kinder belohnte oder bestrafte. Wie bei uns. Der oben genannte christliche Ur-Samichlaus ist also nicht der älteste.

Zurück zur Berlinerin: Denkt sie heuer an unser damaliges, zufälliges Zusammentreffen zurück? Hat sie die Legende, die ich ihr beim anschliessenden Tee bei mir zu Hause übergab, gelesen und verinnerlicht? Und die Kassiererin, ist sie vielleicht auch noch auf die Antwort gestossen, die sie selbst nicht geben konnte? Nicole richtete die Frage zuerst an sie. Beantworten konnte diese Frau sie nicht, obwohl sie aus unserem Kulturkreis stammte und nicht mehr jung war. Sie blieb still, einfach still und sass auf ihrem Stuhl wie ein Kind, das am Examen nicht zu antworten weiss. Was die Kunden doch immer alles wissen wollen! So kam es, dass ich mich einmischte.

Nicoles Begleiterin hatte schon nach der peinlichen Stille beim Einpacken ihrer Einkäufe mitfühlend gesagt: „Gälled Sie, mer machts eifach, wie mers immer gmacht hät!“ („Nicht wahr, man macht es einfach, wie es schon immer gemacht worden ist.“)

Eine solche Haltung ist dem Samichlaus vielleicht lieber als wir meinen. Sein Auftreten und seine Anliegen können sowieso nur mit dem Herzen verstanden werden.

Hinweise auf Links
Die Legende, wie sie die St.-Nikolaus-Gesellschaft von Zürich weitergibt:
St. Nikolaus als Kirchenpatron von heute
Nikolaus und Bezüge auf alte Winterbräuche
Nikolaus, der Türke, aus heutiger Sicht