Samstag, 5. November 2005

Ein weiter Horizont ist an vielen Orten zu finden

„Wir alle haben den gleichen Himmel, aber unseren eigenen, persönlichen Horizont.“ Diesen vieldeutigen Satz sprach Ingrid aus Köln aus, als wir uns über die Eindrücke der weiten Landschaft äusserten. Während ich den tiefen Horizont so erlebte, als könnte ich den Himmel betreten, wenn ich nur genügend lange in gleicher Richtung führe, sprachen unsere deutschen Freunde mit Begeisterung von den Horizonten in den Schweizer Bergen.

Gerne hätte ich sie am letzten Sonntag auf eine Wanderung zur Farneralp ins Zürcher Oberland mitgenommen und ihnen das Panorama vom Toggenburg bis zu den Berner Alpen gezeigt. Für Primo und mich war es ein goldener Tag, ausgeleuchtet von einer milden Herbstsonne, einem blauen Himmel und mit Farbtupfern noch belaubter Bäume. Kontraste zu den stotzigen, grünen Hängen.

Das Zürcher Oberland ist eine faltenreiche, abwechslungsreiche Gegend, voralpin, mit vielen Wandermöglichkeiten für alle, die gerne aufwärts gehen.

Am Abend, anstatt sofort wieder mit dem Postauto ins Tal zu fahren, setzten wir uns in Faltigberg auf eine Bank vor die Höhenklinik und schauten zu, wie sich der Tag verabschiedete. Wie die Sonne unterging. Wir blieben so lange, bis sich das fahle Gelb über die Silhouetten senkte und bald einmal die Venus als Abendstern aufging. Da sassen wir ganz alleine an einem Ort, wo noch vor Stunden viel Bewegung war. Das Panorama von den Glarner bis zu den Berner Alpen ist hier beeindruckend und hat sicher alle, die heute auch hierher kamen, so fasziniert wie uns.

Dann bei einbrechender Dunkelheit waren alle Menschen plötzlich verschwunden. Unser modernes Leben will es so. Nachtet es ein, gehen wir in die Häuser, zünden das Licht an und alle Schönheit von draussen ist ausgesperrt und ausgelöscht. Für diesmal fügten wir uns diesem Automatismus nicht. Wir blieben sitzen, länger als eine Stunde, offen für die kleinsten Veränderungen am Himmel. Bis die Nacht dann endgültig angekommen war. Wie gut, dass uns das Postauto danach sicher und bequem nach Wald ZH führen konnte. Ein Rückweg zu Fuss hätte mir etwas Angst gemacht. In Rüti ZH, als wir den Zug nach Zürich erwarteten, tanzten goldene Fetzen vor meinen Augen. Es war offenbar etwas viel, was ich ihnen heute zugemutet hatte.

Ferdinand Hodler malte in seinen Bildern Farbstimmungen aus dem Gebiet Genfersee, wie wir sie geschaut hatten. Und der Fotograf Otto Eggmann fotografierte für seinen Fotoband „Zürcher Oberland“ die erlebte Szene am ähnlichen Standort. Kunst und Natur brauchen einander. Kunst will die schönen Momente bewahren und Natur regt zum Malen und Fotografieren an.

Die Farben des letzten Sonntags will ich nun in die dunkle Jahreszeit mitnehmen. Nicht nur wie eine Konserve im Fotobuch oder auf einem Gemälde. Als etwas Lebendiges, als bewegtes Licht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen