In diesen Tagen beschäftige ich mich mehr als sonst mit dem Friedhof,
dem Tod, den Sinnfragen, ohne dass ich einen Mitmenschen zu beklagen
hätte. Ich bin auf einen von Historikerinnen geführten Rundgang durch
den Friedhof Sihlfeld in Zürich mitgegangen. Als Kind betrat ich
diesen Ort eher ängstlich. Heute aber ist er für mich ein Fried-Hof, wo
die Alltagshektik ausgeblendet ist. Die Grünflächen tun das ihre, so
dass wir uns da wohl fühlen können, an einem Ort, wo hauptsächlich die
Trauer dominiert. Friedhöfe sind Oasen für die Lebenden. Seltsam. Da, wo
Menschen in die Erde gebettet werden, weil sie den Atem aushauchten,
atmen die Lungen der Stadt besonders kräftig.
Der Friedhof ist heute ein Park und nicht mehr ein Gottesacker wie zu
Ulrich Zwinglis Zeiten. Nach einer Abbildung, die uns die
Historikerinnen zeigten, war derjenige, der zu St. Peter gehörte,
zur Zeit des Reformators, nur ein umgegrabenes Ackerfeld, ohne Schmuck,
ohne verewigte Namen. Alle Menschen sollten nach seiner Auffassung im
Sterben gleich sein. Die Toten im Erdreich waren dem Vergessen
übergeben. Heute pflegen wir die Gräber und mit ihnen die Erinnerung an
Verstorbene mit persönlichen Grabmalen. Sie bleiben zirka 25 Jahre
unberührt. Erst dann wird das jeweilige Feld umgegraben. Die Stadt
Zürich verfüge über 24 Friedhöfe und 60 000 Gräber, hörte ich auf diesem
spannenden „Frauenstadtrundgang“ zum Thema „Die Frauen und der Tod“.
Die Historikerinnen hatten vor allem die Stellung der Frau in der
früheren Gesellschaft im Fokus. Sie wiesen auf Bräuche früherer
Jahrhunderte hin. Sie zeigten uns Gräber mit symbolischen Darstellungen
als Zeugen sich wandelnder Anschauungen. Sie berichteten auch über
frühen Kindstod und Kindbettfieber und dass für diese Mütter und Kinder
damals am Rande des Friedhofs ein speziell abgestecktes Feld zur
Verfügung stand. Man wusste noch wenig über die Ursachen dieser grossen
Sterblichkeit und grenzte die so verstorbenen Frauen und Kinder als
Vorsichtsmassnahme aus.
Die jungen Historikerinnen stellten fest, dass es keine Gräber mit
Familiennamen der Frau gäbe, auch keine Frauengrabmale mit Hinweisen auf
ihren Beruf. In solchen Momenten berührt es mich eigenartig, dass ich
von jungen Frauen darüber belehrt werde, was in meinem Leben Normalität
war. Noch nicht lange können Frauen ihren angestammten Familiennamen
auch in der Ehe weiter benützen und die berufliche Förderung der Frau
ist ebenfalls noch nicht sehr alt.
Ganz anders das Thema im Friedhof Enzenbühl. Beim Teich mit der Figur der trauernden Frau konnten wir uns auf einfache Bänke setzen und beim Einnachten ein vom „Theater Elch“
inszeniertes „Streit- und Trostgespräch vom Tode“ – ich würde es „mit
dem Tode“ nennen – mitverfolgen. Faszinierend. Der Ort, die Stimmung,
die alten Bäume, die uns grossräumig umschlossen, die feine, durch das
ganze Stück tragende und uns entführende Musik, sie öffneten uns für die
letzten Fragen unseres Menschseins.
Der „Ackermann aus Boehmen“, so der Titel des Stücks, streitet mit dem Tod, der ihm seine gute und treue Frau genommen hat.
Trauer kennen wir alle, nicht aber die Argumente des Todes. Und diese lieferte der Autor (Johannes von Tepl, 1428) in nachvollziehbarer Weise. Wie viele er davon vortrug! Und die an Bildern reiche Sprache! Udo Thies,
der den Tod verkörperte, trat nicht als Sensemann auf. Seine Kleidung
liess ihn nicht als Tod erkennen. Die schöne Jacke, die er trug, wüsste
ich gern mein eigen! Er kam näher, ganz nahe. Vom andern Ufer kommend,
überschritt er auch das Wasser. Aber die Kontrahenten konnten sich nicht
einigen. Erst auf anderer Ebene und im Gespräch mit dem Ewigen wandelte
sich die Trauer.
Nun liegt das Reclam-Taschenbuch mit dieser Geschichte auf meinem
Arbeitstisch. Es ist mir auch innerlich nahe. Wo ich es auch öffne und
hineinschaue, bin ich gepackt. Solche Kost habe ich jahrzehntelang nicht
mehr bekommen. Ein Kontrapunkt zum Leben, das gegenwärtig in der Stadt
fast ausschliesslich nur auf Spass und Unverfrorenheit ausgerichtet ist.
Dieses Spiel mit seinen grossartigen schauspielerischen Leistungen wird im August in Basel auf dem Friedhof Hörnli und in Bern im Bremgartenfried ebenfalls mehrmals aufgeführt. Am liebsten würde ich nochmals dabei sein.
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