Dienstag, 30. August 2005

Versorgt, vergessen, plötzlich gefunden: Schweizer Fahne

Das Dach eines unserer Reihenhäuser an der Hardturmstrasse in Zürich wird renoviert. Die Ziegel werden abgetragen und eine neue Isolation eingesetzt. Von meinem Arbeitsplatz im 1. Stock kann ich den Männern bei der Arbeit zuschauen. Ich bewundere die Leichtigkeit und Sicherheit, mit der sie sich bewegen und einander die Ziegel zuwerfen.

Dann wende ich mich wieder meiner Arbeit zu. Und doch nimmt meine linke Gesichtshälfte alle Bewegungen dieser Arbeiter wahr, obwohl ich mich doch auf den Bildschirm konzentriere. Männer auf dem Dach vis-à-vis und Bewegungen dort oben sind eben ungewohnt. Auf einmal „sehe“ ich rot und schaue auf. Da kann ich beobachten, wie einer der Dachdecker sorgsam eine Schweizer Fahne aus der Seitenwand der Lukarne herauszieht. Jetzt rollt er sie auf und bewegt sie leicht, schaut den Stoffwellen nach. Wie feinfühlig er das macht! Dann nimmt er den Hammer in die Hand, holt aus der Hosentasche einen Nagel und befestigt die Fahne am obersten Punkt des Giebelfensters. Dann strahlt er. Er weiss gar nicht, dass er beobachtet wird.

Nun öffne ich mein Fenster und rufe herüber: „Super!“ Er lacht. Er hoffe noch auf ein kleines Aufrichtefest. Diese Fahne diene nun als Aufrichtebaum. Der Mann spricht gebrochen deutsch. Dass er die Fahne beinahe liebkost hat, heisst vielleicht, dass er das Schweizer Bürgerrecht bekommen hat oder dass er froh ist, hier arbeiten zu können.

Donnerstag, 25. August 2005

Platzspitz Zürich: Wo sich auch Limmat und Sihl treffen

Durch den Platzspitz spazieren heisst, dem hektischen Zürich den Rücken kehren. Das Gebiet hinter dem Landesmuseum wurde von den beiden Flüssen Limmat und Sihl in jahrhundertelanger Arbeit zu einem Dreieck geformt. Der Platz, heute ein Park, mündet in einen Spitz. Dort treffen die beiden Flüsse aufeinander und vereinigen sich.

Hier wurde 1883 die erste schweizerische Landesausstellung abgehalten. Den Park erlebte ich als Kind als einen Ort zum Flanieren. Die Rasenflächen gehörten dem Auge, die Wege den Füssen. „Rasen betreten verboten“ war damals eine respektierte Weisung. Niemand lag auf öffentlichen Wiesen herum. Das schickte sich nicht. Manchmal erklang romantische Musik oder Belcanto-Gesang vom Pavillon herab. Für die Kinder aus dem angrenzenden Industriequartier war der Park etwas Sonntägliches und das Grün der Flächen und alten Bäume ein Kontrast zum Schulweg und Alltag in der Umgebung von Fabriken.

Dieser Ort erlangte mit der offenen Drogenszene als „Needlepark“ dann traurige Berühmtheit. Seit 1993 steht der Park aber wieder allen offen. Er ist gereinigt, saniert. Die alten Bäume formen sich gegen den Spitz hin zu einem beeindruckend weiten Raum. Draussen, vor dem Gitter, plätschert kühles Wasser. Die Brunnenfiguren – eine Seejungfrau und ihr männlicher Partner – tanzen zur Vereinigung der beiden Flüsse. Seit Jahrzehnten steht der schöne Brunnen an diesem Ort. Hier gehen viele Menschen vorüber. Es sind Wege, die der Alltag bestimmt. Touristen kommen seltener bis hierher.

Nun ist das Drogenelend im Park erneut sichtbar, in Form einer Fotoausstellung im Freien. 30 Panoramafotografien von Michael von Graffenried säumen den Hauptweg und führen uns das von Drogen bestimmte, elende Leben vor Augen. Ein Gegenstück zu den hier lebenden Bäumen. Was sagt wohl der Ginkgo dazu, wenn er das erneut ansehen muss? Er, der Lebensfreude und Lebenskraft verkörpert und von uns als Lebensbaum verehrt wird.

Und im Landesmuseum selber wurden Heiligenfiguren aus dem Schlaf geweckt. In der Mittelalterabteilung stehen jetzt Fotos von Michael von Graffenried mit ihnen „im Gespräch“. Und eine der Rahmenveranstaltungen weist auf die Sehn-Süchte beider Gruppen hin. Das Thema des Vortrags von Prof. Jakob Tanner: „Von religiöser Ekstase zu Ecstasy.“
Jetzt nochmals zurück zum Brunnen am Spitz: Gehen wir über die Limmatbrücke, treffen wir am andern Ufer auf die 1928 erbauten Rotach-Häuser, die neuerdings auf der Pro-Patria-Briefmarke (85 Rp.) abgebildet sind. Hinter ihrem Grün-Versteck auf der schmalen Insel, die einen Kanal abtrennt, musste auch ich sie suchen, als ich von ihrer Auszeichnung las.

Zum Sihlquai zurückgekehrt, finden wir einen grossen Fliegenpilz, der aus dem Strunk eines abgeholzten Baumes geschnitten und farbig angemalt worden ist. Nochmals eine Markierung der einstigen offenen Drogenhölle. Das Sihlquai, früher sicher ein Ort zum Promenieren, gehört heute nur noch dem Autoverkehr. Hier fahre ich trotzdem gern mit dem Velo heimwärts. Die Luft ist durch den Wasserraum frischer. Ich mag auch die Rosskastanienbäume, die das Trottoir überdachen.

Im Juli entdeckte ich im Flussbett, das wenig Wasser führte, aus Steinen gestaltete Figuren, vermutlich Werke von Ueli Grass. Seit Jahren überrascht er uns mit seinen Steinsetzungen am See. Nun erstmals in der Limmat? Ich weiss es nicht. Fest standen sie da, wie Wächter eines Reviers und mir schien, in freundlichem Austausch untereinander. Wie kommt es, dass sich aufgeschichtete Steine aneinander festhalten, dem Wind trotzen, ohne dass ein Hilfsmittel verwendet worden ist?

Alles was es dazu brauche, seien schwere Steine, ruhige Hände und Zeit, lese ich auf Grass‘ Homepage.

3 Tage waren die Steinsetzungen für mich sichtbar. Dann kam der grosse Regen, und die Wassermassen zerstörten sie.

Ein Spiel, ohne traurig zu werden, wenn es aus ist. 

Hinweise
Infos zur 1. Landesausstellung 1883
Platzspitz

Mittwoch, 17. August 2005

Im Zug-Fahrpreis inbegriffen: Kontakte und Geschichten

Der Zug fährt los. Die alte Maria winkt. Sie hat mich auf den Bahnhof begleitet. Sie freute sich, dass ich sie besuchte und ihr zuhörte, wie ihr Leben war und ist. Sie zeigte mir Orte, wo Primos Vorfahren lebten und erzählte spannende Geschichten.
Nun bin ich wieder allein, freue mich auf die Heimfahrt. Eisenbahnfahrten sind für mich Erholung und eine Form von Meditation. Nur auf die Landschaft schauen, wie sie vorbeizieht, und wissen, dass sie doch stillsteht, tut mir gut. Ihren Formen und Linien folgen, einzelne Bäume bewundern, die Farben und Lichteinfälle aufnehmen, das ist Glück für mich.

Im Nu sind wir in Sargans. Es steigen etliche Leute zu. Zu mir setzt sich ein klein gewachsener, älterer Mann und grüsst freundlich. Seine wachen Augen signalisieren Kontaktfreude und Offenheit. Ich spüre, dass er mit mir plaudern will. „Oh nein!“, denke ich. Ich möchte auch den Rest der Heimfahrt mit der Landschaft und ihren Bergen allein geniessen, meine Ruhe haben.

Der Mann achtet nicht auf meine zurückgezogene Haltung, gibt nicht auf, auch wenn ich seine Fragen äusserst knapp beantworte. Aber bald einmal bewundern wir zusammen das, was die Fahrt uns bietet. Wir freuen uns an Gleichem. Der Mann, der von einer Wanderung heimkehrt, erzählt dann, wie es ihm heute ergangen ist, wie das Wetter war, wie sich die Wege präsentierten und wie er Kraft bekomme, wenn er wandere. Als der heutige Tag beschrieben war, blätterte er in seinen Erinnerungen weiter zurück und berichtete von einer lange zurückliegenden, gefährlichen Passüberquerung, wo er den Weg verloren hatte und auf einer Geröllhalde abstürzte. Unten sei er überraschend von einem unbekannten Mann aufgefangen worden. Dieser habe ihm auf die Beine geholfen und den weiteren Weg gezeigt. Glücklicherweise blieb er unverletzt. Ehe er recht zu sich gekommen sei, war der Retter verschwunden.

Jetzt wird es still in unserem Abteil. Der Gesichtsausdruck des Erzählers erscheint plötzlich seltsam verklärt. Die Erinnerungen berühren ihn offensichtlich stark. Er frage sich immer noch, wer ihm geholfen habe. Dann sagte er: „Da gehst du 50 Jahre deiner Wege, meinst alles aus dir selbst heraus zu können und die Ziele allein zu finden – und dann das! Das macht bescheiden.“

Nun ist der Redefluss versickert. Erst kurz vor Zürich höre ich noch, dass er mit seinem behinderten Sohn im gleichen Haushalt lebe. Eine grosse Aufgabe für ihn, die ihn immer wieder an Grenzen führe. Darum schätze er Ausflüge und Wanderungen und die sich ergebenden Kontakte. Daraus schöpfe er die nötige Zuversicht.

Als wir uns verabschieden, weiss ich, dass ich nun jedes Mal, wenn ich mit dem Zug zwischen Sargans und Zürich unterwegs bin, an ihn denke.

Montag, 15. August 2005

Die Zürcher Street-Parade-Strassen sind jetzt wieder sauber

Die Strassen der Stadt Zürich sind nun wieder sauber, harmlos, der Urin-Geruch dank des Regens aufgelöst, die Ruhe eingekehrt. Meine Tochter Letizia, die am Sonntag sehr früh durch die Bahnhofhalle kam, erzählte, dass die Schuhe im Schmutz kleben geblieben seien.

Ich war am Samstag auf dem Weg in meinen Dienst innerhalb der Menschenströme, die an die Street Parade gekommen waren, unterwegs. Da konnte ich gerade froh sein, dass ich das Limmatquai noch überqueren konnte. Trotz des kühlen Wetters sah man viele entblösste Leiber. Viele Frauen im Bikini mit Netzstrümpfen. Da war einfach jeder gute Geschmack unbekannt.

Am schlimmsten für mich: Jede kleine Bar und beinahe jeder Kiosk in meinem Umfeld war mit einer Verstärkeranlage ausgerüstet. Wo ich auch hinkam, dröhnte es. Da werden sicher Gehörschäden davongetragen.

Das grosse Problem: Die Drogen! Der „Tages-Anzeiger“ titelt heute (15. 8. 2005): „Positive Partybilanz trotz Drogenrekord“ und schreibt: „... die Zahlen der Polizei überschatten die Bilanz: 182 Personen mussten wegen Drogen- oder Alkoholmissbrauchs betreut werden, 70 % mehr als an der letztjährigen Parade. 40 Personen wurden wegen Dealer-Tätigkeit verhaftet.“

Wenn ich heute die Bilder in der Zeitung anschaue, dann weiss ich wieder einmal: Ich bin von einem anderen Planeten. Ich kann dieses Ausflippen auf „Teufel komm raus!“ nicht nachvollziehen. Dabei freute ich mich am Samstag, als ich die 15 Tips („Tun und Lassen“) las. Z. B. „NO DRUGS, NO DEALING, GOOD FEELING!“

„Werdet nicht selber Opfer des Klischees, dass man nur mit Drogen feiern könne. Niemals Drogen mixen! Alkohol und Partydrogen zusammen können lebensgefährlich sein. Glaubt den Dealern nichts; denen ist euer Leben egal. Lügt euch nicht selbst an. Drogenfrei abtanzen ist geil genug.“

Das diesjährige Motto hiess TODAY IST TOMORROW − Heute ist Morgen! – auf Schäden hinweisend, die in der Zukunft auftreten können. Mir imponierte der Blick auf die Vernunft.

Ich bezweifle aber, dass solche Aufrufe im Massentaumel überhaupt noch gehört werden können.
Keine Freude habe ich verspürt, als ich vor einer Stunde den Organisator am Radio verkünden hörte: Auch nächstes Jahr (2006) findet die Street Parade statt.

Sonntag, 7. August 2005

Friedhöfe: Orte der Trauer, Geschichte und Sinnfindung

In diesen Tagen beschäftige ich mich mehr als sonst mit dem Friedhof, dem Tod, den Sinnfragen, ohne dass ich einen Mitmenschen zu beklagen hätte. Ich bin auf einen von Historikerinnen geführten Rundgang durch den Friedhof Sihlfeld in Zürich mitgegangen. Als Kind betrat ich diesen Ort eher ängstlich. Heute aber ist er für mich ein Fried-Hof, wo die Alltagshektik ausgeblendet ist. Die Grünflächen tun das ihre, so dass wir uns da wohl fühlen können, an einem Ort, wo hauptsächlich die Trauer dominiert. Friedhöfe sind Oasen für die Lebenden. Seltsam. Da, wo Menschen in die Erde gebettet werden, weil sie den Atem aushauchten, atmen die Lungen der Stadt besonders kräftig.

Der Friedhof ist heute ein Park und nicht mehr ein Gottesacker wie zu Ulrich Zwinglis Zeiten. Nach einer Abbildung, die uns die Historikerinnen zeigten, war derjenige, der zu St. Peter gehörte, zur Zeit des Reformators, nur ein umgegrabenes Ackerfeld, ohne Schmuck, ohne verewigte Namen. Alle Menschen sollten nach seiner Auffassung im Sterben gleich sein. Die Toten im Erdreich waren dem Vergessen übergeben. Heute pflegen wir die Gräber und mit ihnen die Erinnerung an Verstorbene mit persönlichen Grabmalen. Sie bleiben zirka 25 Jahre unberührt. Erst dann wird das jeweilige Feld umgegraben. Die Stadt Zürich verfüge über 24 Friedhöfe und 60 000 Gräber, hörte ich auf diesem spannenden „Frauenstadtrundgang“ zum Thema „Die Frauen und der Tod“.

Die Historikerinnen hatten vor allem die Stellung der Frau in der früheren Gesellschaft im Fokus. Sie wiesen auf Bräuche früherer Jahrhunderte hin. Sie zeigten uns Gräber mit symbolischen Darstellungen als Zeugen sich wandelnder Anschauungen. Sie berichteten auch über frühen Kindstod und Kindbettfieber und dass für diese Mütter und Kinder damals am Rande des Friedhofs ein speziell abgestecktes Feld zur Verfügung stand. Man wusste noch wenig über die Ursachen dieser grossen Sterblichkeit und grenzte die so verstorbenen Frauen und Kinder als Vorsichtsmassnahme aus.

Die jungen Historikerinnen stellten fest, dass es keine Gräber mit Familiennamen der Frau gäbe, auch keine Frauengrabmale mit Hinweisen auf ihren Beruf. In solchen Momenten berührt es mich eigenartig, dass ich von jungen Frauen darüber belehrt werde, was in meinem Leben Normalität war. Noch nicht lange können Frauen ihren angestammten Familiennamen auch in der Ehe weiter benützen und die berufliche Förderung der Frau ist ebenfalls noch nicht sehr alt.

Ganz anders das Thema im Friedhof Enzenbühl. Beim Teich mit der Figur der trauernden Frau konnten wir uns auf einfache Bänke setzen und beim Einnachten ein vom „Theater Elch“ inszeniertes „Streit- und Trostgespräch vom Tode“ – ich würde es „mit dem Tode“ nennen – mitverfolgen. Faszinierend. Der Ort, die Stimmung, die alten Bäume, die uns grossräumig umschlossen, die feine, durch das ganze Stück tragende und uns entführende Musik, sie öffneten uns für die letzten Fragen unseres Menschseins.

Der „Ackermann aus Boehmen“, so der Titel des Stücks, streitet mit dem Tod, der ihm seine gute und treue Frau genommen hat.

Trauer kennen wir alle, nicht aber die Argumente des Todes. Und diese lieferte der Autor (Johannes von Tepl, 1428) in nachvollziehbarer Weise. Wie viele er davon vortrug! Und die an Bildern reiche Sprache! Udo Thies, der den Tod verkörperte, trat nicht als Sensemann auf. Seine Kleidung liess ihn nicht als Tod erkennen. Die schöne Jacke, die er trug, wüsste ich gern mein eigen! Er kam näher, ganz nahe. Vom andern Ufer kommend, überschritt er auch das Wasser. Aber die Kontrahenten konnten sich nicht einigen. Erst auf anderer Ebene und im Gespräch mit dem Ewigen wandelte sich die Trauer.

Nun liegt das Reclam-Taschenbuch mit dieser Geschichte auf meinem Arbeitstisch. Es ist mir auch innerlich nahe. Wo ich es auch öffne und hineinschaue, bin ich gepackt. Solche Kost habe ich jahrzehntelang nicht mehr bekommen. Ein Kontrapunkt zum Leben, das gegenwärtig in der Stadt fast ausschliesslich nur auf Spass und Unverfrorenheit ausgerichtet ist.

Dieses Spiel mit seinen grossartigen schauspielerischen Leistungen wird im August in Basel auf dem Friedhof Hörnli und in Bern im Bremgartenfried ebenfalls mehrmals aufgeführt. Am liebsten würde ich nochmals dabei sein.