Wie jedes Mal, wenn wir in den Süden reisen, bewegt die Durchfahrt durch den Gotthardtunnel unsere Emotionen und fördert Erinnerungen zu Tage. Immer sind die Geschichten aus „Mein Name ist Eugen“ von Klaus Schädelin
dabei. Auch diesmal wieder. Mein Mann und ich denken gerne an die dort
beschriebenen Lausbubengeschichten zurück, denn wir gehören zur
Generation, von der sie erzählen.
Natürlich haben auch wir unseren Kindern vorgeführt, wie der Beweis
erbracht werden könne, dass die Eisenbahn-Tunnels im Kreis herum führen.
Wie im Eugen-Buch beschrieben, befestigten wir ebenfalls einen
Schuh an der Gepäcksablage und liessen ihn pendeln. Für die Mädchen war
das aber nicht so spannend. Die Begeisterung lag eher auf der Seite der
Eltern. Die Kirche Wassen jedoch, denen die Reisenden vom
Bahnfenster aus auf immer anderen Ebenen und Abständen begegnen, sie
bleibt für alle bis heute eine Attraktion.
Unsere Gotthard-Überquerung zu zweit und zu Fuss ist aber das
massgebende Erlebnis, das uns mit diesem Pass und seiner Ausstrahlung
verbindet. Aus eigener Kraft, weder von Pferden gezogen noch von Autos
hingeführt, bewältigten wir vor Jahren Aufstieg und Abstieg. Immer
Schritt um Schritt vorwärts, immer von grosser Neugierde angetrieben,
welche Sicht uns die nächste Wegbiegung bereithalte.
Es ist heute nicht mehr gefährlich, die Säumerwege zu begehen. Sie
sind gepflegt und gut markiert. Wie anders in zurückliegenden
Jahrhunderten, als Menschen und Tiere in unwegsamem Gebiet vom Wege
abkommen konnten, erfroren oder von Lawinen verschüttet wurden! Der Tod
muss dort oben ein Dauergast gewesen sein. Es fällt uns heute schwer,
nachzuempfinden, wie die Altvordern mit Naturgewalten und Gefahren
umgegangen sind.
Zu Fuss auf dem Gotthard anzukommen, ist etwas Bewegendes. Ich weiss
noch, wie wir in der modernen Kapelle allein zu singen anfingen und wie
warm und resonanzfreudig der Raum antwortete. Auch das Museums-Erlebnis
ist eingeprägt. Bilder, Ton und Texte lassen Zeitsprünge Richtung
Vergangenheit zu. Dort kann man sich der Geschichte hingeben. Mich hat
sie nie mehr losgelassen.
Ein Blick ins „Nationale Gotthard-Museum“-Buch versetzt mich
immer wieder vom Sofa weg in die Sust auf St. Gotthard. Unser
persönlicher Höhepunkt damals: Eine Übernachtung im Hospiz. Obwohl
angemeldet, fühlte ich eine grosse Erleichterung, hier oben
gastfreundlich und unbesorgt nächtigen zu können. Noch höre ich dem Wind
zu, wie er, von Norden her kommend, sich anschlich, über die
Hospiz-Ebene zog und dann in die Tiefe Richtung Süden sauste. Ich lag
wach. Es war still, wie es nur in den Bergen still sein kann. In mir
drinnen sah ich seinen Weg, wie er für ihn für jene Nacht vorgegeben
war.
Das im Jahr 2003 im Orell Füssli Verlag erschienene Buch „Mythos Gotthard“ erklärt uns, was der Pass bedeutete und auch heute noch bedeutet. Der Verlag schreibt dazu: „Der
Sankt Gotthard ist nicht einfach ein Pass. Er ist eine Vorstellung.
Während der 800 Jahre, seit denen er begangen, befahren, durchbohrt und
ausgehöhlt wird, haben die Menschen eine Vielzahl von Bedeutungen in ihn
hineingelegt und aus ihm herausgelesen. Zentrum Europas, Seele der
Schweiz, Lebensader, Schicksalsweg, Fels in der Brandung der
Weltgeschichte – solche Ideen vom Gotthard sind tief im kollektiven
Bewusstsein verankert und prägen das Denken und Handeln der Menschen bis
in die tagesaktuelle Debatte hinein.“
Im diesem Buch erklärt uns der Autor Helmuth Stalder auch, was Mythen sind: „Überlieferungen
und Erzählungen aus der Frühzeit einer Gemeinschaft, die berichten von
der Entstehung der Welt, vom Wirken der Götter und Dämonen, von den
Tagen der Heroen. Es sind legendenhafte, sagenhafte Schilderungen von
Sachverhalten, Begebenheiten und Personen, die die Gemeinschaft als
wichtig empfindet. An ihrem Ursprung stehen oft reale Ereignisse, die
dann in einen Sinnzusammenhang gebracht und in ein Bedeutungssystem
integriert werden. Im Mythos tritt das Reale hinter das Bild zurück. Was
vor Augen steht, ist ein nebulöses Kondensat, ein konfuses ,Wissen',
das sich in einem unaufhörlich kreisenden Prozess aus einer Vielzahl von
Assoziationen bildet.“
Diesen Prozess spürte ich auch diesmal wieder stark, auch wenn ich
„nur“ mit der Bahn und „nur“ durch den Berg reiste. Es ist immer
bewegend, wenn ich an dieser Scheide, die Norden und Süden trennt,
durchkomme und an die vielen Menschen denken kann, denen ich das heutige
sichere Reisen verdanke.
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