Dienstag, 25. Januar 2005

Die Gegenwart: Das ist genau jetzt

Stimmt der Vorwurf, wir verstünden es nicht, in der Gegenwart zu leben? Ist das überhaupt möglich?

Leben heisst atmen. Da sind wir sicher in der Gegenwart, selbst wenn es hastig geschieht. Um das Leben zu erhalten, brauchen wir Nahrung. Diese nehmen wir ebenfalls in der Gegenwart ein. Und wenn sich unser Darm entleert, lässt er ein Stück verarbeitete Vergangenheit los, ebenfalls in der Gegenwart. Wir arbeiten heute, jetzt. Wir sind vielleicht an Projekten für die Zukunft beteiligt, erarbeiten sie aber in der Gegenwart. Und auch die Vergangenheit ist uns nützlich. Auf ihren Erfahrungen bauen wir an der Zukunft.

Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich diese vorwurfsvollen Töne höre, wir würden nicht in der Gegenwart leben, wie das gerade heute wieder geschehen ist. Das ist einfach nicht möglich. Die Gegenwart ist kurz, sehr kurz, aber sie ist der eigentliche Lebensmoment.

Gelten lasse ich aber gern den Kalenderspruch „Du bleibst jung, wenn du an der Zukunft mehr Freude hast als an der Vergangenheit.“

Samstag, 22. Januar 2005

Posttour ab Zürich-West

Durchs Fenster an der Pforte sehe ich auch heute wieder, wie es drinnen wimmelt. Ich hole die vorbereitete Posttour für meine Route in Zürich-West. Als so genannte Aushilfe arbeite ich nur am Samstagmorgen, stelle Briefpost zu.

Wie immer, werde ich sofort nach dem Eintreten in den Sog dieser hier arbeitenden Menschen mitgerissen. Es macht Spass, hinter den Kulissen zu erleben, wie Briefe und Zeitungen ihren Weg zu den Adressaten finden. Hier arbeiten Menschen, die schnell und gleichzeitig zuverlässig agieren können. Jede Tour ist ein kleines Reich. Die Zuständigen nehme ich als Individualisten wahr, die aber zu einem grossen Ganzen gehören. Und da füge ich mich als kleine Aushilfe ganz gern ein.

Das erste Wegstück ist stotzig (steil). Ich schiebe den Karren ruhig voran. Im ersten Drittel gehe ich auf einer kaum befahrenen Strasse. Es ist so still, dass ich im Sommer jeweils Pendulen-Schläge aus einer Wohnstube vernehmen kann.

Ich schätze die eingravierten Namen an den Briefkästen, muss aber auch Detektiv sein. Von Hand angeschriebene und vom Wetter verwitterte Klebeetiketten können einen verwirren. Dazu die vielen fremden Namen, von denen nicht sofort auszumachen ist, welches der Familien- und welches der Vorname ist. Doch schwierige Fälle prägen sich ein. Alle bekommen ihre Post.

Unterwegs spreche ich mit meinen Füssen und Knien und danke ihnen, dass sie mir behilflich sind. Tausende Schritte muss ich tun, auf und ab, auch in Gärten und Höfe hinein.

Im Altersheim hole ich die Post aus dem gelben Kasten und schleuse sie in den Zustellkanal. Unterwegs treffe ich wieder auf jenen Mann, der seit Monaten auf meinem letzten Wegstück, an Stöcken humpelnd, eine neue Beweglichkeit einübt.

Hunderte von Sendungen gingen durch meine Hand. Von allen geht eine ganz eigene Ausstrahlung aus. Schöne Briefe bewundere ich, auch wenn der Blick auf ihnen nur Sekunden oder Bruchteilen davon ruhen kann. Auch spezielle Briefmarken erkenne ich sofort. Postkarten aus fernen Ländern entfachen Reisefieber. Immer sind es Sendungen von und an Menschen. Was bringe ich Ihnen? Gutes oder schwer Verdauliches? Sicher bin ich oft Schicksalsträgerin, ohne dass ich es weiss.

Mittwoch, 19. Januar 2005

Zürich am Meer

Ich bin an den Zürichsee gelaufen und habe das Meer gefunden. Wasser und Himmel vereint. Kein Alpenkranz in Sicht. Rechtes und linkes Seeufer im Dunst versteckt. Nur die Albiskette lässt sich erahnen.

Scheinbar unspektakulär, zieht diese verschlafene Situation wenig Spaziergänger an. Mir aber gefällt sie. Ich weiss, dass es ein Dahinter gibt, habe es öfters schon gesehen. Jetzt schaue ich das an, was der heutige Tag mir zeigt. Die Weite, das Unendliche, das diffuse Blau. Auch die Sonne ist anwesend und am Lichtspiel beteiligt. Ganymed ist ebenfalls da, noch nicht abgeflogen. Aber von der Sehnsucht, in den Olymp zu gelangen, redet seine Geste seit Jahrzehnten. (Die von Hermann Hubacher gestaltete Skulptur steht im kleinen Park bei der VBZ-Haltestelle Bürkliplatz.)

Ich fühle mich weit weg von meinem Alltag, obwohl ich noch keine Stunde unterwegs bin. Auf dem Rückweg treffe ich auf der Bahnhofstrasse unverhofft Karin, eine Mitschülerin aus dem Seminar für Freiwillige, das wir im letzten Sommer abgeschlossen haben. Wir entschliessen uns spontan, die Gunst der Stunde zu nutzen. Bei Strudel und Vanillesauce setzen wir uns zusammen und berichten von persönlichen Erlebnissen, seitdem wir uns adieu gesagt haben.

Karin schildert mir das Sterben ihrer Schwester, und wie sie diese noch begleiten durfte. Ich spüre, wie ihr die Trennung zu schaffen macht und sie mit dem Abschied ringt.

In solchen Situationen sprechen in mir die Sinnbilder. Zum Beispiel eben am See geschaute. Wir ahnen oder wissen, dass es ein Dahinter gibt, auch wenn wir es jetzt gerade nicht sehen können. Ganymed hat Recht, wenn er uns auf unseren Abflug in eine andere Dimension einstimmt.

Freitag, 14. Januar 2005

Vor Sonnenaufgang in Zürich

Heute will ich die Zeit bis zum Sonnenaufgang wieder einmal bewusst erleben. Ich verlasse das Haus kurz nach 7 Uhr und streune in der unmittelbaren Umgebung herum. Wie ein Hund. Im Geschäftshaus, unseren Reihenhäusern gegenüber, brennt schon Licht. Die Kantinen-Küche ist hell erleuchtet. Ich kann 5 Köchen zuschauen, wie sie im Trab sind und Vorbereitungen für das Mittagsmahl treffen. Ihre hohen weissen Hauben tanzen.

Noch immer ist Nachtschwärze am Himmel über der Stadt Zürich. Doch zur grossen Überraschung haben sich die Wolken, die ich beim Aufstehen vorgefunden habe, fast alle verzogen, und über mir leuchten die Sterne. Von ihnen fühle ich mich gehalten. Wir grüssen einander.

Aus den Kaminen steigen Räuchlein auf. Raben kreischen. Das Tram fährt ein. Frauen und Männer eilen ihren Arbeitsorten zu. Einige lachen und schwatzen angeregt. Ich gehe ans Limmatufer, laufe ostwärts. Blesshühner und Enten machen sich hier bemerkbar. Am Himmel sehe ich die dünnen Wolken nach Norden abziehen. Jetzt sind sie wie zu einem grossen Flügel formiert. Ein Engelsflügel? Das Licht kündigt sich an. Der Himmel wird türkisblau, etwas gläsern. Später zieht ein rosa Licht einher und erhellt die Waldkanten am Zürichberg. Dann mache ich gelbes Licht aus. Aber es vergeht noch eine weitere Stunde, bis mir die Sonne ins Antlitz schaut.

Im Gegenlicht erscheinen Bäume, Häuser und mir entgegenkommende Menschen wie schwarze Scherenschnitte. Als Kontrast flackern Autolichter nervös über die zweistöckige Limmatbrücke und die Strassen rechts und links des Flusses. In kurzen Intervallen braust die S-Bahn in den Tunnel nach Oerlikon. Die Unruhe nimmt zu. Jogger keuchen an mir vorbei. Eltern stossen ihre schlafenden Kinder Richtung Kinderhort. Aggressive Velofahrer drängen Fussgänger zur Seite. Einige Mitmenschen grüssen, andere gehen schlaftrunken einher. Wie immer, stehe ich auf der Höhe des Wipkingerparks eine Weile still und schaue dem wirbligen Weg des Wassers zu. Hier kann ich lauschen.

Auf dem Rückweg ist es hell genug, dass ich die Tafel am Hardturm lesen kann. Dieser bewohnte mittelalterliche Wohnturm gehört zu den ältesten Gebäuden von Zürich. Nur gerade die Spitze seiner Wetterfahne überragt die neue Wohnsiedlung Züri-West. Und einst war er ein Kontroll- und Wehrturm.

Alt und neu, Urbanität und Natur, Stille und Hektik. Das ist mein Lebensumfeld, mein Standort, von dem aus ich im Blogatelier berichten werde. Heute also zum ersten Mal.